Mittwoch, 26. September 2018

Milano, Teil 1


Der dunkelhäutige Mann in der dritten Sitzreihe rechts schrak auf. Er hatte wohl längere Zeit tief und fest geschlafen und unter Umständen dabei sogar geträumt. Im Augenblick seines Aufschreckens jedenfalls befand sich der Sternbus, in dem er in der dritten Sitzreihe rechts saß, auf der Mebo, einer Schnellstraße, in Richtung Meran.
"Milano?" krächzte er fragend in leicht panischem Ton.
Zwei Reihen vor ihm saß eine etwas festere Frau, neben ihr ihre Tochter. Besagte Dame hatte auf der gesamten Fahrt von München nach Bozen mit dem offenbar österreichischen Fahrer Weisheiten ausgetauscht, gnadenlos, eine nach der anderen. Und die Fahrgäste, die in der vorderen Bushälfte saßen, waren gewollt oder ungewollt Zuhörer der oben erwähnten Gespräche geworden.
Der ebenfalls massige österreichische Busfahrer war in Bozen ausgestiegen und hatte an einen anderen Fahrer übergeben und denselben während der Übergabe mit einem sagenhaften Redeschwall übergossen. Der neue Fahrer dürfte davon herzlich wenig mitbekommen haben- er war, wie sich bald herausstellen sollte, im Deutschen nicht über die Maßen bewandert.
Wir wollen nicht abschweifen! "Milano!?" hatte unser dunkelhäutiger Mann, soeben dem Reich der Träume entwichen, verunsichert gerufen, ja beinahe geseufzt.
Die Antwort kam natürlich von der wohlbeleibten Frau mit der ausgeprägten sozialen Ader: "Sì, noi andare a Merano." Die Sache schien geritzt, war es aber nicht.
In der ersten Sitzreihe links saß ein Herr mittleren Alters, der in Innsbruck zugestiegen war und sich dabei eines eleganten Hutes entledigt hatte. Gestehen wir es, selbiger Herr arbeitet als Friseur im Schlanderser Krankenhaus. Genau selbiger Friseur wurde vom "Sì, noi andare a Merano." auf den Plan gerufen. "Ma non ha detto Milano?"
Unsere mollige Frau war verdutzt- und wenn der dunkelhäutige Mann wirklich Milano gesagt hatte? Da musste man unverzüglich nachsetzen: "Tu andare a Merano o Milano?" Sie war ziemlich aufgeregt, auch ihre Tochter hatte sich bereits nach hinten gedreht und starrte den dunkelhäutigen Mann unverwandt an. Meine Güte, die Fahrt wurde jetzt richtig aufregend! Und noch dazu befand sich Mama mitten drin im Geschehen.
Unser Frager war zwar noch etwas schläfrig, wiederholte sein Milano aber dermaßen deutlich, dass der Friseur und auch die korpulente Frau, die wir Amalia nennen wollen, keinen Zweifel mehr hatten.
Der Fahrer hingegen bekam von der aufregenden Angelegenheit vorläufig noch nichts mit. Die Hände hatte er zwar am Lenkrad und die Augen und damit den Blick auf die Mebo gerichtet, in Gedanken aber kippte er gerade ein Schnäpschen in irgendeiner Bar in irgendeinem Dorf in seinem Heimatland Tschechien.
Der Friseur war zweifelsfrei der cleverste aller Beteiligten. Das hätte man bereits an seinem eleganten Hut, den er beim Einsteigen in Innsbruck, wie gesagt, abgelegt hatte, erkennen können. Mehrmals erklärte er, dass der österreichische Fahrer vor der Ankunft in Bozen, ebenfalls mehrmals, durchgegeben hatte, dass die Fahrgäste mit Ziel Rom oder Mailand umsteigen mussten.
Unser dunkelhäutiger Mann hatte allerdings tief und fest geschlafen und von der Durchsage des Fahrers nichts mitbekommen. Aber selbst wenn er wach gewesen wäre, hätte er letztere wahrscheinlich nicht verstanden. Es war, wie es war- er hatte ein Ticket nach Milano und saß im Bus nach Merano. Mehr noch sogar: er hatte nicht nur ein Ticket nach Milano, sondern er musste auch nach Milano. Den Umstieg hatte er verpasst und verpennt und jetzt saß er im Bus nach Merano, mit Amalia mit Tochter und dem Friseur zwei Reihen vor sich und dem tschechischen Fahrer hinter dem Lenkrad.
Dem Friseur dämmerte, dass allerhöchste Eile geboten war. Ahmed, wie wir unseren Sternbus-Reisenden mit Ziel Milano nennen wollen, musste unverzüglich zurück nach Bozen, Meran war die komplett falsche Richtung. Es ist nicht auszuschließen, dass der Friseur Enrico hieß. Enrico also beschloss kurzerhand, den Fahrer in die missliche Lage des Fahrgastes mit einzubeziehen, umriss kurz und prägnant die Sachlage und bat den Fahrer, Ahmed vor dem Bahnhof Lana-Burgstall abzuladen, damit er unverzüglich mit dem nächsten Zug nach Bozen fahren könne. Der Sternbus war mittlerweile nämlich auf dem Weg von der Haltestelle Lana zurück auf die Mebo. Das Problem schien gelöst, der Fahrer hatte aufmerksam zugehört und nickte verständnisvoll.
Der Fortgang der Handlung allerdings verlief entgegen Enricos weitblickendem Plan. Anstatt Ahmed aussteigen zu lassen, kehrte der Sternbus schnurstracks auf die Mebo zurück- verständnisvolles Nicken des Fahrers hin oder her.
"Porca miseria, perchè non lo ha fatto scendere?" fragte sich Enrico, sagte aber nichts. Die Lage, die so einfach schien, wurde schön langsam verzwickt und unübersichtlich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen